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England und Schottland. August 2017

Schottland. Nay, da fahre ich nicht hin. Da ist es kalt und es regnet die ganze Zeit. Diesen Glaubenssatz habe ich jahrelang innerlich mit mir herum getragen, bis ich dem lauten Ruf doch gefolgt bin, denn zu lange ist die Liste geworden, für die es sich schon lohnen würde, ein bisschen Regen in Kauf zu nehmen.

Und so in etwa sah sie aus:
– mit dem Zug durch den Eurotunnel nach London fahren
– mich mit meiner Mutter in Edinburgh treffen
– das National Museum of Scotland in Edinburgh besuchen
– in Glasgow Charles Rennie Macintoshs architektonisches Vermächtnis besichtigen
– mit der West Highland Railway fahren
– auf dem West Highland Way wandern gehen
– auf der Isle of Skye über den Rücken des Quiraing spazieren

Noch einige Tage bevor ich losfahre, stehe ich im Büro mit einigen meiner Arbeitskollegen zusammen. Die anderen berichten von ihren bevorstehenden Reisen bei denen es ausnahmslos in den warmen und sonnigen Süden zu gehen scheint. Zaghaft werfe ich meine Pläne in den Raum. „Ich hasse Regen und schlechtes Wetter, könnt ihr mir vielleicht sagen warum ich ausgerechnet nach Schottland fahre?“ komme ich ins Zweifeln.
Die äußerst einfühlsame Reaktion meiner Kollegin „Na wahrscheinlich weil du genau DA hin willst?“ werde ich mir tatsächlich in vielen regen-durchnässten Momenten in Erinnerung rufen.

Am Frankfurter Hauptbahnhof, von wo aus wir den ICE nach Brüssel nehmen, treffe ich auf meine (ich kann es mir nicht verkneifen – ebenfalls rucksackbepackte) Mutter, die mich für einen Teil der Reise begleiten wird. Aus einer geplanten direkten ICE-Verbindung von Frankfurt am Main nach London ist bedauerlicherweise nie etwas geworden und in Anbetracht der weiteren zukünftigen Beziehungen zwischen Großbritannien und den EU-27 wird mit ziemlich großer Wahrscheinlichkeit auch nichts mehr daraus. Das Umsteigen in Brüssel-Midi ist nicht sonderlich einladend, der Wartebereich könnte für die Reisenden durchaus attraktiver gestaltet und unsere Eurostar-Zuggarnitur muss wohl eine der ersten Generation sein. Egal, hier geht es um das Erlebnis. Als wir uns Calais nähern, sehen wir die vielen Stacheldrahtzäune entlang der Gleise, ein irgendwie trauriger Anblick. Und flupp, schon hat uns die Röhre geschluckt.

Der Eurotunnel erstreckt sich über eine Länge von ca. 50 km, von denen knapp 37 unterhalb des Ärmelkanals verlaufen. Die Idee einer Verbindung zwischen England und Frankreich reicht weit bis ins 18. Jahrhundert zurück. Eine Realisierung scheiterte jedoch unzählige Male, entweder an der technischen Umsetzung, der kriegerischen Auseinandersetzung zwischen den beiden Ländern oder später an politischen Differenzen. Erst in den 1980er Jahren konkretisierten sich Pläne für den Bau eines Tunnels, der schließlich 1994 eröffnet wurde.

Es dauert nicht lang, bis wir aus der Dunkelheit wieder an die Oberfläche gelangen und wenig später London St. Pancras International erreichen, eine Kathedrale eines Bahnhofs. Wir verlassen das Gebäude, und schon fahren die roten doppelstöckigen Autobusse und schwarzen Taxis an uns vorbei. Hello London! Wir verbringen zwei völlig entspannte Tage hier. A little bit of everything. Tower Bridge, Borough Market, Café-Hopping im Stadtteil Bloomsbury. Nichts spektakuläres, auf uns wartet ja noch so viel auf uns!

Es geht weiter mit dem Zug von London nach Edinburgh. Ich bin ganz neugierig, als wir die Städte Durham und Newcastle passieren. Die beiden Orte wo einerseits mein Großvater, andererseits mein Urgroßvater aufgewachsen sind. Ich sehe Newcastle Castle aus dem Zug, schieße rechtzeitig ein Foto und halt innerlich fest – dahin komme ich irgendwann zurück!

Ein wenig später fahren wir in den Bahnhof Edinburgh Waverly ein. Als wir auf den Bahnsteig treten und die große Anzeigetafel sehen, können wir uns ein Lachen nicht verkneifen. Wir haben tatsächlich mit der Bahn die ganze Strecke von München und Wien bis nach Edinburgh zurück gelegt! Hier finden wir alles vor, was wir uns ausgemalt haben: Natursteinmauern aus gelben Sandsteinblöcken, gemauerte Schornsteine, die großen Sprossenfenster, deren Flügel man ruckelnd hinauf- und hinunter schiebt, und ihre undichten Glasscheiben. Und ansonsten – Schottenröcke, Dudelsäcke, zum Glück bin ich Vegetarier und muss kein Haggis essen.

Gerade findet das weltberühmte Fringe-Festival statt, und während wir tagsüber die Stadt entdecken, landen wir abends üblicherweise in einem Konzert. Die Stadt ist voll mit Künstlern und Kunstliebhabern, aus jeder Ecke tönt Musik.
Wir wandern auf Calton Hill, Arthur’s Seat und zu Edinburgh Castle. Die Stadt hat was Zauberhaftes.

Hervorheben möchte ich aber unseren Besuch im National Museum of Scotland. Ein Foto dieses fulminanten mehrstöckigen, viktorianischen Hauptatriums hatte vermutlich einen bedeutenden Anteil daran, dass ich mich zu der Reise durchgerungen habe. Als ich auf der obersten Galerie genau in der Mittelachse stehe und in den Raum blicke, weiß ich warum. Es ist einer der beeindruckendsten Räume, in denen ich jemals gestanden habe, ich kann mich an den Details der Konstruktion nicht sattsehen und habe größten Respekt vor den Glasgower Architekten Hoskin Architects, die die Sanierung des denkmalgeschützten Museums aus den 1880er Jahren zwischen 2003 (Wettbewerb) und 2016 (Eröffnung) geleitet haben. Das Museum selbst lässt auch keine Wünsche offen, man könnte hier problemlos einige verregnete Tage verbringen. Die Sammlungen bieten einen weitreichenden Querschnitt durch die Weltkultur, Naturwissenschaft, Technik sowie Kunst und zeichnen sich durch eine äußerst reizvolle Zurschaustellung der Exponate aus.

Und obwohl es gleichwohl im Museum wie in der Stadt bestimmt noch so viel mehr zu entdecken gäbe, brechen wir nach Glasgow auf.
„People make Glasgow“, lautet der Slogan der Stadt, wie man es allerorts lesen kann. Die Arbeiterstadt, das ehemalige Industriemoloch, ist mit Herz und Seele dabei, sich zu einer modernen, weltoffenen Stadt zu entwickeln. Und würde das Wetter in Glasgow nicht so unerträglich sein, wie uns die so freundlichen Bewohner der Stadt berichten, ich würde glatt hier leben wollen. Hm. Man weiß ja nie.

Die Stadt erinnert ein bisschen an Chicago in den 1920er Jahren, obwohl ich doch selbst gar nicht in Chicago war. Vielleicht ist es der dunkelrote Sandstein, der rasterförmig aufgebaute Stadtgrundriss, die hohe Bebauungsdichte und Geschossigkeit der Gebäude, der alt-industrielle Charme, auf den man durch filigrane Eisenkonstruktionen und Murals vielerorts trifft. Überall spürt man noch den Geist des großartigen Glasgower Arts-and-Crafts Architekten Charles Rennie Mackintosh. Wir besuchen einige seiner Bauwerke, The Lighthouse, The Willow Tearooms, das Macintosh House und nicht zuletzt die Glasgow School of Art, die 2014 einem verheerenden Brand zum Opfer gefallen ist (Anm. und nach unserer Reise 2018 während der Restaurierungsarbeiten erneut in Flammen aufging).

Nach einigen Tagen in dieser ach so unerwartet sympathischen Stadt, breche ich mit etwas gemischten Gefühlen in Richtung Highlands auf, denn voraussichtlich soll es die kommenden Tage ununterbrochen regnen, mit Ausnahme des ersten Abends meiner Ankunft. Von der Strecke entlang der West Highland Train sehe ich kaum etwas, ich blicke hauptsächlich hinaus in grauen Nebel. Ab Fort William klart es auf, sodass ich bei strahlend blauem Himmel von Mallaig, dem kleinen alten Fischerdorf mit der Fähre nach Armadale auf der Isle of Skye übersetze.

Es fällt mir nicht schwer, an der Ferrystation Armadale auf den Bus zu warten, der in knapp einer Stunde nach Portree, dem größten Ort der Insel aufbrechen sollte. Ich suche mir einen großen Stein, von dem aus ich einen fantastischen Blick zurück auf das „Festland“ habe, lausche dem Wasser und meinem Atem. Soll es meinetwegen den Rest meines Aufenthalts regnen, von dieser grandiosen Aussicht hier werde ich bestimmt ein paar Tage, wenn nicht Wochen, lang zehren können.

Als mein Bus wider Erwarten nicht aufzukreuzen scheint, erkundige ich mich im kleinen Terminal der Ferrystation nach dessen Verbleib. Der nette Herr am Schalter, der mir eine Stunde zuvor noch die Information gegeben hat, dass es sich um einen blauen Bus handelt, der sicherlich nicht zu übersehen sein wird, fängt an zu lachen. „Aaah, it’s Saturday“, fällt ihm ein. „It might not come.“
Neee, denke ich mir und will’s nicht wahrhaben, immerhin bin ich seit 5 Uhr morgens wach. Etwas zurückhaltend bringe ich meinen Unmut zum Ausdruck. Der Herr schmunzelt weiter und möchte mich aufmuntern. „Come on lady, at least it doesn’t rain!“ That’s right. Er schlägt mir vor, die einzige Hauptstraße entlang der Küste entlang zu laufen, irgendwann würde mich der letzte Bus des Tages dann schon aufgabeln wenn er mir entgegen kommt, ich bräuchte einfach nur zu winken. Hilft ja nichts, ich wollte diesen (einzigen) wunderschönen Abend zwar anders verbringen als vollbepackt mit meinem fetten Rucksack eine asphaltierte Landstraße entlang zu gehen, aber es scheint wohl keine Alternative zu geben. Und was soll ich sagen, es wurde ein ganz großartiger Spaziergang in der Abendsonne.

Ich blicke unentwegt auf das dunkelblaue Meerwasser und die Gesteinsformationen in der Ferne, die aus dem Wasser ragen und befülle nebenbei meine zwei leeren Kaffeebecher mit frischen Brombeeren, die ich von den prall gefüllten Sträuchern pflücke. Später am Abend werde ich mir bei meiner Ankunft im Hostel noch Pancakes mit meinen Brombeeren machen.

Ich verbringe einige Tage in Portree, der Hauptstadt der Insel. Ein schnuckeliges Hafenstädtchen wie aus dem Bilderbuch.

Von Portree aus lässt sich der Quiraing (dt. Gerundete Falte aus dem Altnordischen) ganz gut erreichen. Im Wesentlichen handelt es sich dabei um eine geologische Formation mit abfallender Abbruchkante an der Ostseite.
Wie durch einen Sumpf latsche ich stundenlang durchs Gestrüpp. Oben angelangt schaue um mich. Als würde ich auf dem Rücken eines riesigen Dinosauriers stehen. Regen und Wind werden stärker, ich habe Hunger und muss etwas essen. Doch der Wind weht mir mein Sandwich aus der Hand. No joke. Ich beschließe, umzukehren bevor’s mir mulmig zumute wird. Dennoch absolut lohnenswert, was ich da – wenn auch etwas unwirklich – gesehen habe.

Mit der Begehung des Old Man of Storr, der vielleicht allgemein bekannten Felsnadel auf der Isle of Skye hatte ich gar nicht mehr gerechnet. Das Wetter war weiterhin so übel, dass ich es vorzog mich ins gemütliche Café Arriba in Portree zu setzen, Tagebuch zu schreiben und hinunter auf die kleinen Boote im dunklen stahlgrauen Wasser zu blicken. Als unerwartet die Regenwolken abziehen, mache ich mich doch noch spontan auf, aber das Vergnügen ist nur von kurzer Dauer, wie ich mir denken hätte können. Kurz nachdem ich mit dem Aufstieg zum Old Man of Storr ansetze, nebelt es wieder ein, aber jetzt bin ich schon da…
Der Weg wird stetig undefinierter und matschiger. Weit ist das ja alles nicht aber wahnsinnig unangenehm zu gehen. Es regnet, es ist windig, auf dem aufgeweichten Boden habe ich kaum Halt. Die letzten Meter auf den höchsten Punkt robbe ich auf allen Vieren durch den ausgetretenen Matsch nach oben. Ich setze mich auf den Stein des Plateaus, von dem man zugegebenermaßen einen schon beeindruckenden Ausblick auf die Gesteinsformation des Alten Mannes hat. Sein Name geht übrigens auf eine Legende zurück, in welcher ein Mann mit seiner Frau vor einem Riesen flieht und auf der Flucht versteinert wird. Die Stimmung ist an Düsternis kaum zu übertreffen. Pretty frightening. Die Wolken werden stetig dunkler, der Regen stärker, mir ist kalt, ich bin völlig durchnässt, meine Klamotten voller Matsch und ich fange tatsächlich zu weinen an. Ich versuche mich mit einer Tasse warmen Tee bei Laune zu halten, denke an die warme Dusche und die Pancakes mit Brombeeren am Abend. In diesem Moment kommt ein Schotte hoch auf das Plateau, sieht mich an, blickt auf seine Uhr und sagt mit fröhlicher Stimme „It’s tea time, isn’t it?“. Yes! Loving british humour! Die Situation scheint gerettet, ich bin schlagartig wieder guter Dinge – so schlimm ist das alles doch nicht. Ich mache ein letztes Foto und gehe – ähem rutsche – hinunter. Blauer Himmel kann ja jeder, oder?

Ich fahre zurück durch die Highlands und verbringe einen weiteren Tag in Fort William. Mein Vorhaben, den Ben Nevis zu besteigen, kann ich schnell abschreiben, denn angeblich schneit es auf dem Gipfel, weswegen mir wird von einer Besteigung dringend abgeraten wird. Also gehe ich am Fuße des Ben Nevis eine Etappe des West Highland Ways nach Kinlochleven. Gefühlt bis ans Ende der Welt. Es regnet den ganzen Tag, sodass ich am Ende meine Wanderkarte entsorgen kann. Um mich vom Regen abzulenken, blicke ich konzentriert auf den Boden und stelle fest, dass nasse Steine schöner sind als im trockenen Zustand, so als hätte man Kontrast und Sättigung erhöht. Ich denke an meinen Urgroßvater, der Geologe war und in Edinburgh unterrichtet hat. Das ist sein Boden, seine Erde, sein Gestein! Ich suche mir ein paar schöne Steine aus und stecke sie in die Hosentasche. Ich gehe stundenlang weiter, sehe kaum eine Menschenseele, dafür aber umso mehr Schafe. Ich lasse mich von deren Gelassenheit beeindrucken. Dennoch muss ich zugeben, so hochgelobt und beliebt dieser Wanderweg durch die schottischen Highlands auch ist, so richtig warm ums Herz wird mir seltsamerweise nicht. Vielleicht bin ich schlichtweg übersättigt und bereit, die Rückreise anzutreten.

Auf dem Weg zurück lege ich spontan eine mehrstündige Pause in Glasgow ein, nachdem ich die Stadt so lieb gewonnen habe. Ich klappere noch einmal alle meine Lieblingsorte (Wilson Street Pantry) ab und spaziere entlang meiner Lieblingsstraßen (Gordon Street, Ingram Street, Wilson Street), kaufe mir zum Abschluss tatsächlich einen Kilt und kiloweise Tee (Whittard of Chelsea). Ich setze mich in den Zug und genieße die Stunden, die ich förmlich an der Fensterscheibe klebe, um hinaus in die Weite zu blicken. Wir halten in Penrith und Oxenholme, und es klingelt – mir haben so viele Leute vom Lake District erzählt und davon geschwärmt. One day… Die Landschaft verändert sich immer weiter, nur die Schafe bleiben. Birmingham, dann Englands Süden, wir fahren durch Bath. Und dann geht alles ganz schnell. London, Calais, Lille, Belgien… ich steige in Brüssel in den ICE und höre wieder deutsche Stimmen. In meinen Gedanken werde ich aber noch lange bleiben irgendwo zwischen der Isle of Skye und Glasgow.


Besucht im August 2017

Besuchte Orte: London, Edinburgh, Glasgow, Portree, Quiraing, Old Man of Storr, Fort William, Kinlochleven

Weiterführende Links & Quellen:

People Make Glasgow | Official Guide to the City of Glasgow
https://peoplemakeglasgow.com/

West Highland Way – Scotland’s Best Loved Long Distance Walking …
https://www.westhighlandway.org/

Isle of Skye Scotland. Visitors Guide & Skye Accommodation.
https://www.isleofskye.com/

VisitScotland – Schottlands nationale Touristenorganisation
https://www.visitscotland.com/de-de/

Glasgow Mackintosh
https://www.glasgowmackintosh.com/

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